Wahr oder nicht wahr, das ist nicht die Frage!

Literatur ist etwas Schönes. Ich lese ein Buch gerne mit der Absicht, einen kleinen Urlaub zu machen, wo ich eigentlich nicht die Zeit habe, wirklich wegzufahren. Dieser Urlaub findet dann in der Phantasie statt, durch dieses Buch angeregt. Das kann sein, weil die Geschichte einfach auf einem anderen Kontinent, in einem weit entfernten Land stattfindet oder einfach nur, weil die Charaktere lebhafte Gestalt annehmen und mich in ein anderes Umfeld als das gewohnte versetzen, egal ob ich den geographischen Ort mit einem sich real auf der Welt befindlichen gleichsetzen kann oder nicht. Natürlich ist dann da noch das Thema an sich, das ein Buch für mich ausmacht. Es darf ruhig sehr phantasiegeboren sein, allerdings für meinen Geschmack nicht so extrem, dass kein Bezug zu unserer Welt oder genauer meinem Leben mehr möglich ist. Da der Autor mich in der Regel nicht persönlich kennt, wird die Geschichte selbst kein Beispiel aus meinem Leben sein, und genau das ist dann das Reizvolle: Ein Thema, das ich als ein auch für mich gültiges ausmachen kann, das aber durch andere Augen, durch andere Gedanken gegangen ist und mich somit auch dazu führt, meine Ansichten neu zu bilden, das Buch stellt also etwas mit mir an.

Das ist etwas anderes, als die Reality-Geschichten, die sich überall ausbreiten. Da sind die soaps im TV, Reality in Big Brother-Form, Magazine wie Stern-TV oder Notruf, die Millionen locken und auch in der Buchschreiber-Branche werden immer mehr Biographien geschrieben, deren einzige Voraussetzung ist, dass der/die Autor(in) meint, es wäre für die Leserschaft interessant. Ich habe natürlich nichts gegen Realität, gegen Nachrichtensendungen etwa oder Biographien an sich. Historisches und Dokumentarisches hat natürlich mehr als nur eine Daseinsberechtigung. Was ich nur schon mal gedacht habe ist, dass durch diesen Reality-Hype die (für mich) schöne Literatur an Terrain verliert. Dazu tauchte kürzlich dieser Artikel von Juli Zeh auf, dem ich fast vollständig zustimme!

5 Gedanken zu „Wahr oder nicht wahr, das ist nicht die Frage!

  1. Etosha

    Vielleicht hat dieser Reality-Hype seinen Ursprung darin, dass die Gesellschaft immer weniger Phantasie aufbringen kann, um Literatur damit zu vervollständigen, zum Leben zu erwecken.
    Viele Kinder langweilen sich heute verdammt schnell, wenn sie nicht beständig von außen unterhalten werden. Und haben vor allem – anders als früher noch – der Langeweile absolut nichts entgegenzusetzen.

    Dramatisch ist es, sich vorzustellen, dass das dargebotene Reality-Angebot das wahre Leben der Reality-Fans in puncto Spannung und Interessantheit noch bei weitem übertreffen dürfte; sonst könnten sie sich ja nicht dafür begeistern. Die Flucht aus dem eigenen Leben bleibt die gleiche, die Mittel sind anders geworden, dumpfer.

    Ich glaube, da haben ein paar Leute den Satz „Die besten Geschichten schreibt das Leben“ irgendwie missinterpretiert.

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  2. Iwi

    Der Reality-Hype und die Unfähigkeit, die eigene Phantasie zu bemühen – da kommt auch wieder die Frage nach dem Huhn und dem Ei auf. Prinzipiell hast du Recht damit, dass es leichter ist, sich Bilder anzusehen, als selbst Bilder machen zu müssen. Aber warum müssen diese Bilder immer mehr aus der faktisch belegbaren Realität kommen?

    Und ich glaube auch nicht ganz, dass die „Flucht aus dem eigenen Leben [die gleiche] bleibt“. Denn durch die ‚echten‘ Geschichten passiert was ganz anderes, als durch die phantasiegeladenen: Immer sind es extremversionen des Lebens, denn sonst würden sie sich ja auch nicht so gut verkaufen. Aber der Zuschauer/Leser verlässt diese Vorstellung mit dem Wissen, dass die Welt gefährlich/ungerecht/voller Intrigen usw. usw. ist. Er macht sich keine Gedanken über sich selbst, hat keine Fragezeichen aus diesem Erlebnis mitgenommen sondern Ausrufezeichen. Er ändert im schlimmsten Fall seine Meinung über seine Welt, obwohl diese Meinungsänderung auf etwas beruht, das evtl. gar nicht wirklich mit seinem Leben zu tun hatte.

    Ob da wirklich ein direkter Zusammenhang besteht, weiß ich nicht, da mein Erfahrungsfeld bestimmt kein repräsentatives ist, aber mal ein Beispiel:
    Ich kenne einige Menschen, die regelmäßig soaps ansehen. Auch ich habe einige Zeit ‚Marienhof‘ und ‚Verbotene Liebe‘ angesehen (natürlich nur, weil meine damalige Freundin das sehen musste ;-)). Dabei fiel mir auf, wie selbstverständlich dort die Lüge zur Bewältigung des Alltages herangezogen wird. Der Lügende hat quasi die Einstellung: „Ich bestimme für dich, dass die Wahrheit für dich nicht wirklich gut ist und du mit der Lüge besser leben kannst“ und dies war keine seltene Ausnahme. Naja und diese Freunde, zumindest bei zweien ist es sehr stark ausgeprägt, leben auch in ihrem echten Leben so. Ich bin oft total vor den Kopf gestoßen, wenn ich sehe, wie sie regelrechte kleine Lügennetzwerke spannen müssen, um die vermeintlich einfachere Lösung zu gehen, und sie sind erstaunt über meine Verblüffung, da sie es ja doch für so selbstverständlich halten.

    Ich finde also, dass es ein entscheidender Unterschied ist, welche dieser beiden Versionen zur ‚Flucht‘ herangezogen wird, und zwar liegt der Unterschied darin, wie ich aus der Situation wieder herausgehe.

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  3. Etosha

    Ich meinte ja auch eher, dass die Tatsache der Flucht aus dem eigenen Leben die gleiche bleibt.

    Henne oder Ei? Es ist auch fraglich, inwieweit die Soap-Seher erst durch die Soap auf die Lügenmethode gebracht werden. Man muss aus einem bestimmten Holz gemacht sein, um mit solchen Sendungen überhaupt zu resonieren.

    Letzten Endes ist es sogar egal, wodurch man durch seine Lebenslektionen gejagt wird, wenn es nur überhaupt stattfindet. Nur: Peter und der Wolf hatte einen Anfang und ein Ende. Man konnte seine moralischen Schlüsse daraus ziehen. Bei der Soap bezweifle ich, dass sich jemals herauskristallisiert, welche Methode eher zum Sieg führt, dass jeder das kriegt, was er verdient – zumal kein Ende abzusehen ist. Und vor allem: Es geht gar nicht um den Sieg für die eigene Seelengesundheit, das eigene Wachstum, sondern um den Sieg in Bezug auf niedere Instinkte; will sagen, es wird wohl eher transportiert, dass ‚das Böse siegt‘ oder zumindest weiter kommt als das Ehrliche, Authentische. Das Augenmerk des Zuschauers ist gefesselt von diesem Sieg und bemerkt daher nicht, dass es das falsche Spiel ist.

    Realität ist außerdem, was man dazu macht. Wer Soaps als ‚Reality‘ begreift, oder diese Gerichts-Shows mit den grottenschlechten Laiendarstellern im Streit um des Kaisers Bart, der hat wahrscheinlich ohnehin einen an der Waffel, um das mal vorsichtig auszudrücken. 😉

    Dass die Welt gefährlich/ungerecht/voller Intrigen ist, lernen wir aus fiktiven Geschichten mitunter ebenfalls. Jemand, der geneigt ist, Fragezeichen mitzunehmen und sich Gedanken über sich selbst zu machen, tut solches sehr wahrscheinlich auch in Zusammenhang mit Reality-Content. Nur, dass er von vornherein gar nicht so sehr daran interessiert sein wird.

    Vielleicht ist unsere wissenschaftsgläubige Welt auch günstiger Nährboden für ‚Reales‘, weil so wunderbar überprüfbar. Vielleicht haben auch jene Eltern einen Anteil daran, die ihrem Kind von Beginn an stets Unterhaltung bieten und ängstlich darauf bedacht sind, Langeweile gar nicht erst aufkommen lassen, welche aber zur Ausbildung eines Selbstbeschäftigungsansatzes und der dazu nötigen Phantasie dringend nötig wäre.

    Ich weiß es ehrlich nicht. Ich sehe nur, dass hier dumpfes Volk von dumpfen Machern mit dumpfer Nahrung gefüttert wird.

    Was ich jedenfalls entsetzlich fand, war der Absatz in dem von dir verlinkten Artikel über die Existenz von Lektoren, die beschriebene Straßenzüge aus Büchern rausstreichen, wenn es diese in der betreffenden Stadt nicht tatsächlich gibt. Abgesehen davon, dass ich das kleingeistig finde, ist es doch auch nicht im Sinne eines Stadtbewohners, täglich Besucher empfangen zu müssen, die seine Adresse in einem Buch gelesen haben. Ich bin sicher, es gab mal eine Zeit, da DURFTEN Straßenzüge nicht wiedererkennbar sein.
    Eine hirnrissige Einstellung, und ein großes Problem für die Literatur, wenn wirklich schon solche Menschen auf Lektorenstühlen sitzen. Da wird die ansonsten vielleicht durchaus hilfreiche und sinnvolle Aufgabe eines Lektors sehr schnell zur fragwürdigen Zensur-Einrichtung, und die Dumpfheit des Infizierten wird damit allen verordnet.

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  4. Iwi

    Ich hab schon den Eindruck, dass viele Menschen, nennen wir sie mal soap-Süchtige, vieles aus diesen geschaffenen Welten adaptieren. Schlimm ist das ohne Frage, aber ich meine auch, dass dieses Übernehmen jenen gar nicht bewusst ist.

    Dass die fiktiven Welten auch Intrigen, Gefahren und Ungerechtigkeiten thematisieren ist schon richtig, aber hier auch wieder ein entscheidender Unterschied: Es wird nicht der Anspruch erhoben, etwas real stattgefundenes zu präsentieren. Denn diese Themen aus den ‚Reality-shows‘ die regen nicht zum Nachdenken an, die präsentieren etwas, worüber man eigentlich nur eine Meinung haben kann. Diese ‚Bild dir deine Meinung‘-Mentalität ist die einzige Fiktion in diesem Hype, denn die wird gebildet und so wird – wie du auch schon sagst – zunehmend für Dupfheit gesorgt und die Masse mehr und mehr infiziert, und das ist ja das Schlimme.

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  5. Etosha

    Soeben finde ich folgenden Spruch von George Bernard Shaw (war schon ein gscheiter Mensch):

    Die Strafe des Lügners ist nicht, dass ihm niemand mehr glaubt, sondern, dass er selbst niemanden mehr glauben kann.

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